Frankfurt
Wie zukunftsorientierte Aufsichtsräte den Wandel gestalten können
68 % der Aufsichtsräte agieren primär im Compliance-Modus – und laufen Gefahr, strategisch den Anschluss zu verlieren. In einer Zeit massiver Umbrüche – geprägt durch technologische Disruption, geopolitische Spannungen und veränderte Stakeholder-Erwartungen – genügt es längst nicht mehr, die Vergangenheit zu prüfen und Risiken zu verwalten. Die klassische Rolle des Aufsichtsrats als Kontrollorgan greift zu kurz. Gefragt ist heute strategische Weitsicht, aktive Steuerung und die Fähigkeit, kurzfristiges Denken gezielt zu hinterfragen.
Unsere aktuelle Global Board Survey 2025 zeigt jedoch ein ernüchterndes Bild: Fast sieben von zehn befragten Aufsichtsratsmitgliedern sehen ihr Gremium stärker auf regulatorische Pflichten fokussiert als auf die strategische Zukunft des Unternehmens. Nur 10 % verorten ihren Aufsichtsrat klar am strategisch orientierten Ende des Spektrums.
Dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist mehr als ein Governance-Problem – er ist ein strategisches Risiko. Denn Aufsichtsräte, die sich nicht weiterentwickeln, geraten vom Mitgestalter zum Nachzügler.
In diesem Briefing zeigen wir, wie zukunftsorientierte Aufsichtsräte ihre Rolle neu definieren – vom passiven Kontrollorgan zum aktiven Partner der strategischen Unternehmensführung. Und wir erläutern, welche Strukturen, Kompetenzen und Kulturen dafür entscheidend sind.
Vom Kontrollgremium zum strategischen Partner
Über Jahrzehnte hinweg wurde der Aufsichtsrat vor allem als Hüter gesetzlicher Pflichten verstanden – mit klarer Fokussierung auf Finanzaufsicht, Risikoberichterstattung und regulatorische Konformität. Diese Aufgaben bleiben auch heute essenziell. Doch sie bilden lediglich das Fundament. In einem Umfeld wachsender Unsicherheiten und sich beschleunigender Transformationen sind andere Qualitäten gefragt: strategisches Denken, Zukunftsorientierung und die Fähigkeit, die langfristige Wertschöpfung des Unternehmens aktiv mitzugestalten.
Zukunftsorientierte Aufsichtsräte überschreiten bewusst die Schwelle vom klassischen Kontrollgremium zur strategischen Instanz. Sie stellen nicht nur kritische Fragen zur Vergangenheit, sondern richten den Blick systematisch auf das, was kommt: Wie verändern neue Technologien unsere Branche? Welche geopolitischen Risiken entstehen am Horizont? Und welche unternehmerischen Chancen gilt es jetzt zu erkennen und zu fördern?
Aus unserer Beratungserfahrung mit global agierenden Unternehmen wissen wir: Die Leistung des Aufsichtsrats bemisst sich nicht mehr nur daran, was verhindert wird – sondern daran, was ermöglicht wird. Je stärker ein Aufsichtsrat strategische Verantwortung übernimmt, desto klarer wird er zum Wettbewerbsvorteil.
Diese Entwicklung verlangt allerdings einen tiefgreifenden Perspektivwechsel – im Selbstverständnis, in der Agenda-Gestaltung und in der Zusammensetzung des Gremiums. Aufsichtsräte, die an alten Routinen festhalten, laufen Gefahr, das Unternehmen im entscheidenden Moment nicht strategisch begleiten zu können.
Strategische Lücke: Anspruch vs. Wirklichkeit
Viele Aufsichtsräte haben erkannt, dass sie über ihre traditionelle Rolle hinauswachsen müssen. In Gesprächen und Selbsteinschätzungen betonen Mandatsträger:innen regelmäßig, wie wichtig strategisches Denken sei. Doch die Umsetzung bleibt oft hinter diesem Anspruch zurück. Unsere Global Board Survey 2025 bringt es auf den Punkt: 68 % der Befragten sehen ihren Aufsichtsrat stärker auf die Einhaltung regulatorischer Anforderungen fokussiert als auf die strategische Weiterentwicklung des Unternehmens.
Diese Diskrepanz zwischen Haltung und Handlung verweist auf ein tieferliegendes Problem: In vielen Gremien fehlt ein aktualisiertes Selbstverständnis – ein strategisches Mandat, das mit der Realität von Transformation, Disruption und Stakeholder-Druck Schritt hält. Der Aufsichtsrat fragt weiterhin: „Sind wir compliant?“ Dabei müsste die zentrale Frage lauten:
„Schaffen wir die Voraussetzungen für Innovation, Resilienz und nachhaltige Wertschöpfung?“
Zukunftsorientierte Aufsichtsräte beantworten diese Frage mit einem klaren Ja – nicht aus Wunschdenken, sondern weil sie Strukturen, Prozesse und Kompetenzen geschaffen haben, die genau das ermöglichen. Aufsichtsräte, die diese Entwicklung versäumen, nutzen ihr strategisches Potenzial nicht aus – mit gravierenden Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens.
Strategische Wirkung: Mehr als ein Platz am Tisch
Ein Aufsichtsratsmandat allein macht noch keinen strategischen Einfluss. Zukunftsorientierte Aufsichtsräte zeichnen sich nicht durch Präsenz, sondern durch Wirkung aus – und diese Wirkung entsteht nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis gezielter Verhaltensweisen, fundierter Vorbereitung und einer klaren Rollenauffassung: Strategische Steuerung ist keine Aufgabe, die der Geschäftsführung vorbehalten ist – sie ist eine gemeinsame Verantwortung auf Augenhöhe.
Aus unserer Beratungspraxis mit internationalen Aufsichtsräten haben sich drei Verhaltensmuster herauskristallisiert, die den Unterschied machen:
- Chancen erkennen statt nur Risiken bewerten: Leistungsstarke Aufsichtsräte beobachten kontinuierlich externe Entwicklungen – technologische Trends, geopolitische Verschiebungen, Veränderungen im regulatorischen Umfeld – nicht als Jahresübung, sondern als integralen Bestandteil ihrer Arbeit.
- Konstruktiver Widerspruch statt stiller Konsens: Zukunftsorientierte Gremien fördern eine Debattenkultur, in der Annahmen aktiv hinterfragt und unterschiedliche Perspektiven wertgeschätzt werden. Konsens ist nicht das Ziel – Erkenntnisgewinn ist es.
- Förderung von Innovation statt Fokus auf Effizienz: Effektive Aufsichtsräte stellen nicht nur Effizienzfragen, sondern bringen auch Mut zur Erneuerung mit. Sie fragen: Welche Risiken lohnen sich? Welche strategischen Wetten müssen wir eingehen, um relevant zu bleiben?
Diese Herangehensweise verändert die Board-Dynamik grundlegend. Der Aufsichtsrat wird so vom Kommentator zum Co-Architekten der Unternehmenszukunft – und genau darin liegt seine wachsende strategische Bedeutung.
Boardroom-Kultur als unterschätzter Erfolgsfaktor
Strategische Wirksamkeit entsteht nicht nur durch Tagesordnungspunkte – sie entsteht im Raum selbst. Die Kultur im Aufsichtsrat ist oft der entscheidende Unterschied zwischen formaler Anwesenheit und echter strategischer Wirkung. Denn selbst die beste Agenda bleibt wirkungslos, wenn der Austausch von Ideen durch Hierarchien, Eitelkeiten oder Schweigen blockiert wird.
Unsere Global Board Survey 2025 zeigt einen klaren Zusammenhang: Dort, wo der Aufsichtsrat eine hohe strategische Ausrichtung aufweist, nennen Mitglieder offen gelebte Kommunikation, psychologische Sicherheit und ein gemeinsames Zukunftsverständnis als zentrale Ermöglichungsfaktoren.
Aus unserer Sicht ist dies kein Zufall. Leistungsstarke Aufsichtsräte pflegen eine Kultur der intellektuellen Offenheit – sie sehen sich nicht als Gegner der Geschäftsführung, sondern als herausfordernde Partner:innen auf Augenhöhe. Sie schaffen Räume für produktive Reibung und entwickeln ein kollektives strategisches Denken, das über Einzelmeinungen hinausgeht.
Dagegen sind Gremien, die von Formalismus, Deferenz oder innerer Distanz geprägt sind, selten mehr als ein Kontrollorgan. Strategische Impulse entstehen dort nicht – sie versanden.
Wer die Effektivität von Boards steigern will, sollte also nicht nur die Strukturen, sondern auch die Kultur im Blick haben. Denn gerade in volatilen Zeiten ist Vertrauen keine weiche Währung – sondern ein harter Erfolgsfaktor.
Kompetenz ist Strategie: Wie Gremien sich zukunftsfähig aufstellen
Ein Aufsichtsrat kann nur so vorausschauend entscheiden, wie es die Kompetenzen seiner Mitglieder zulassen. Eine gut strukturierte Agenda oder ein ambitioniertes Strategiekonzept reicht nicht aus, wenn das Gremium nicht über die Fähigkeit verfügt, komplexe Zukunftsfragen kompetent zu begleiten. Anders gesagt: Kompetenz ist kein Add-on – sie ist strategische Infrastruktur.
Unsere Umfrage zeigt klare Defizite. Unter den größten Lücken nennen Aufsichtsräte selbst: Digitalkompetenz, ESG-Verständnis und systemisches, vernetztes Denken. Diese Lücken sind keine reinen Fachthemen – sie sind strategisch hochrelevant. Denn sie betreffen genau jene Felder, auf denen sich unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit künftig entscheiden wird.
Leistungsstarke Aufsichtsräte betrachten ihre Besetzung daher nicht als einmalige Übung, sondern als kontinuierlichen strategischen Prozess. Vier Kompetenzdimensionen stehen dabei im Vordergrund:
- Digitale Souveränität: Es genügt nicht, eine:n „Digitalexpert:in“ im Gremium zu haben. Gefordert ist ein breites Grundverständnis, um neue Technologien wie KI, Plattformökonomien oder Cyberrisiken fundiert einordnen und hinterfragen zu können.
- ESG-Kompetenz: Nachhaltigkeit ist längst kein Nebenprojekt mehr, sondern zentraler Treiber für Kapitalzugang, Regulierung und Reputation. Wer hier nicht anschlussfähig ist, riskiert strategische Fehlsteuerung.
- Systemisches Denken: Zukunftsentscheidungen finden nicht im Vakuum statt. Sie erfordern die Fähigkeit, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen im Zusammenspiel zu analysieren – und deren Auswirkungen auf Geschäftsmodelle zu antizipieren.
- Globale Perspektive: Internationale Märkte erfordern kulturelle Intelligenz und geopolitisches Verständnis – nicht nur auf Managementebene, sondern auch im Aufsichtsrat.
Was erfolgreiche Gremien auszeichnet: Sie nutzen ihre Kompetenzmatrix nicht als statische Übersicht, sondern als strategisches Steuerungstool. Sie fragen regelmäßig: Welche Fähigkeiten brauchen wir in drei bis fünf Jahren – und wie entwickeln wir unser Gremium dorthin?
Nur wer Besetzung als Zukunftsfrage versteht, kann Governance wirklich strategisch gestalten.
Die menschliche Dimension: Was leistungsstarke Gremien wirklich ausmacht
In der Diskussion um Qualifikationen wird oft der Fokus auf Fachwissen gelegt: Technologie, ESG, Finanzexpertise. Doch in der Praxis sind es nicht nur Lebensläufe, die darüber entscheiden, ob ein Aufsichtsrat strategisch wirksam agieren kann. Es sind die zwischenmenschlichen Fähigkeiten – die „Governance Soft Skills“ –, die oft den entscheidenden Unterschied machen.
Unsere Erfahrung zeigt: Die besten Gremien bestehen nicht nur aus exzellenten Fachleuten, sondern aus Persönlichkeiten, die strategische Diskussionen auf ein höheres Niveau heben – durch Haltung, Kommunikation und Haltung zur Verantwortung. Fünf Merkmale stechen dabei besonders hervor:
- Empathie und Perspektivenvielfalt: Wer in der Lage ist, unterschiedliche Sichtweisen – sei es generationen-, regionen- oder stakeholderbedingt – einzubeziehen, trifft robustere Entscheidungen.
- Konstruktiver Dialog: Effektive Aufsichtsräte fördern Gesprächskultur, nicht nur Gesprächsdisziplin. Sie hören zu, fordern heraus, und kommunizieren klar – ohne Eitelkeit oder Revierdenken.
- Kooperationsfähigkeit: Strategische Führung erfordert Teamleistung. Gremienmitglieder müssen sich nicht nur mit dem Vorstand, sondern auch untereinander als lernende Gemeinschaft verstehen.
- Neugier und Lernbereitschaft: Die Bereitschaft, über den eigenen fachlichen Tellerrand zu blicken, ist heute ein zentrales Unterscheidungsmerkmal. Wer nicht kontinuierlich lernt, fällt zurück.
- Umgang mit Dissens: Widerspruch ist kein Störfaktor, sondern ein Steuerungsinstrument. Reife Gremien nutzen Dissonanzen produktiv, um strategische Blindflecken aufzudecken – und Innovation zu fördern.
Diese „menschliche Dimension“ ist schwer zu messen – aber spürbar in jeder Sitzung. Sie entscheidet mit darüber, ob ein Gremium zur effektiven Führung des Boards beiträgt oder lediglich formale Aufsicht ausübt.
Die Kompetenzmatrix als strategisches Instrument – nicht als Pflichtübung
In vielen Unternehmen existiert eine Kompetenzmatrix – meist aus regulatorischen Gründen oder als Teil der jährlichen Selbstevaluierung. Doch in leistungsstarken Gremien ist sie weit mehr als ein formales Dokument. Sie ist ein strategischer Spiegel der Zukunftsfähigkeit – und ein zentrales Steuerungsinstrument.
Was erfolgreiche Aufsichtsräte unterscheidet: Sie nutzen ihre Kompetenzmatrix nicht rückblickend („Was bringen unsere Mitglieder aktuell mit?“), sondern vorausblickend: „Welche Fähigkeiten brauchen wir, um die Strategie der nächsten Jahre wirksam zu begleiten?“
Diese Denkweise erlaubt es, Besetzung nicht nur entlang von Lebensläufen, sondern entlang strategischer Herausforderungen auszurichten. Etwa:
- Internationale Expansion: Welche regionalen Kenntnisse fehlen im Gremium?
- Technologische Transformation: Wo braucht es mehr digitale Souveränität?
- Nachhaltigkeitspositionierung: Wer kann ESG-Initiativen nicht nur bewerten, sondern aktiv mitgestalten?
- M&A-Aktivitäten: Welche Transaktions- und Integrationskompetenz ist vorhanden – oder muss aufgebaut werden?
In der Praxis sehen wir: Zukunftsorientierte Aufsichtsräte entwickeln ihre Matrix dynamisch weiter – über regelmäßige Evaluierungen, Peer-Reviews oder Benchmarks mit anderen Unternehmen. Sie ergänzen internes Know-how gezielt mit externen Expert:innen, wenn Geschwindigkeit oder Spezialisierung es erfordern. Und sie nutzen die Matrix als Basis für gezielte Weiterbildung, Mentoring und Gremienentwicklung.
Zukunftsorientierte Gremien begreifen Besetzung nicht als Haken auf einer Checkliste, sondern als strategisches Asset.
Nachfolgeplanung: Führung nicht nur sichern, sondern gestalten
Wenn es um die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen geht, ist eine Frage besonders zentral: Wer führt morgen? Und wer entscheidet heute darüber?
In vielen Unternehmen beginnt die Nachfolgeplanung erst dann, wenn ein Abgang unmittelbar bevorsteht. Doch in einem Umfeld tiefgreifender Transformationen – sei es durch Technologie, Marktveränderungen oder neue regulatorische Anforderungen – ist reaktive Nachbesetzung zu wenig. Zukunftsorientierte Aufsichtsräte begreifen Nachfolgeplanung nicht als Risikoabsicherung, sondern als strategisches Führungsinstrument.
Unsere Global Board Survey 2025 zeigt: Weniger als die Hälfte der befragten Gremien verfügt über eine strukturierte, mehrjährige Nachfolgeplanung für Vorstandsvorsitz und Schlüsselpositionen im Executive Team. Der Rest vertraut auf informelle Netzwerke – oder auf den Zufall. Dabei ist klar: Wer nur auf Abgänge reagiert, gestaltet nicht – er verwaltet.
Was machen leistungsstarke Gremien anders?
- Langfristige Planungshorizonte: Sie entwickeln 3- bis 5-Jahres-Roadmaps für mögliche Führungsszenarien – abgestimmt auf strategische Zielbilder wie Digitalisierung, Internationalisierung oder Transformation.
- Kompetenzbasiertes Mapping: Sie analysieren systematisch, welche Führungsfähigkeiten künftig gebraucht werden – und bauen gezielt Talente auf, intern wie extern.
- Balance aus Kontinuität und Erneuerung: Sie sichern institutionelles Wissen, ohne an bestehenden Strukturen festzuhalten – durch gezielte Pipeline-Entwicklung und Impulse von außen.
- Nachfolge als ständiger Tagesordnungspunkt: Zukunftsorientierte Aufsichtsräte behandeln Nachfolge nicht als Jahresereignis, sondern als Daueraufgabe – eng verzahnt mit Strategie, Kultur und Werteverständnis.
In unserer Beratungspraxis sehen wir: Wenn Nachfolge strategisch gedacht wird, entsteht mehr als Personalplanung – es entsteht ein Fundament für nachhaltige Führung, Glaubwürdigkeit und Veränderungsfähigkeit.
Spannungsfeld zwischen kurzfristigem Druck und langfristiger Wertschöpfung
Kaum ein Thema beschäftigt Aufsichtsräte so konstant – und so kontrovers – wie der Umgang mit kurzfristigem Ergebnisdruck auf der einen und langfristiger strategischer Ausrichtung auf der anderen Seite. Während Quartalszahlen häufig im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, bleibt die Diskussion über Zukunftsfähigkeit und Transformation oft randständig – oder ganz außen vor.
Unsere aktuelle Umfrage zeigt: Der Zielkonflikt ist real. Auf einer Skala von 1 bis 5 bewerten die befragten Mitglieder die Schwierigkeit, kurzfristige und langfristige Interessen in Einklang zu bringen, mit durchschnittlich 3,5. Das ist mehr als ein Meinungsunterschied – es ist ein strukturelles Defizit.
Doch dieser Zielkonflikt ist kein Naturgesetz. Die besten Gremien verstehen: Aktuelle Performance und Zukunftsrobustheit sind kein Widerspruch, sondern zwei Seiten derselben Treuepflicht. Es geht nicht darum, eines zugunsten des anderen aufzugeben – sondern beides im Blick zu behalten und strategisch zu orchestrieren.
Ein zentraler Hebel dafür: Zeit. Wie viel Raum nehmen langfristige Themen wirklich in der Gremienarbeit ein? Unsere Erfahrung zeigt: Was nicht regelmäßig auf der Agenda steht, findet auch nicht den Weg in die Strategie. Ein bewusst gesetzter, wiederkehrender Tagesordnungspunkt – etwa eine „Zukunftsstunde“ pro Quartal – kann bereits eine spürbare Wirkung entfalten.
Langfristiges Denken strukturell verankern: Von Lippenbekenntnis zur Governance-Praxis
Viele Aufsichtsräte sprechen über Langfristigkeit – doch nur wenige verankern sie systematisch in ihren Entscheidungsstrukturen. Unsere Umfrage zeigt: Nur ein Viertel der befragten Mitglieder gibt an, dass der eigene Aufsichtsrat langfristige Investitionen des Managements „konsequent und mit Nachdruck“ unterstützt. Ein beunruhigend niedriger Wert.
Denn wenn langfristige Initiativen regelmäßig an kurzfristigen ROI-Kriterien scheitern oder im Spannungsfeld verschiedener Ausschüsse verloren gehen, sendet das ein klares Signal: Strategische Erneuerung hat keine Priorität. Was unterscheidet jene Gremien, die den Unterschied machen? Drei Faktoren:
- Anreizsysteme mit Weitblick: Wer langfristige Kennzahlen – etwa zu Innovation, Dekarbonisierung oder Talententwicklung – in die Vergütungssysteme integriert, schafft Governance mit Zukunftsorientierung.
- Portfolio-Denken statt Projekt-Bewertung: Nicht jede Initiative lässt sich mit kurzfristiger Rentabilität messen. Erfolgreiche Aufsichtsräte denken wie Wagniskapitalgeber:innen: Welche Vorhaben haben asymmetrisches Potenzial? Welche Unsicherheiten lohnen sich?
- Strategische Erzählung statt Einzelmaßnahme: Langfristige Projekte brauchen Kontext. Sie müssen eingebettet sein in eine übergeordnete Story – sowohl intern für das Management als auch extern für Investor:innen und Stakeholder.
Die Leistung des Aufsichtsrats zeigt sich nicht daran, wie viele Initiativen es genehmigt – sondern ob es den Mut hat, auch unbequeme, zukunftsträchtige Wege mitzugehen. Langfristigkeit beginnt nicht in der Strategieabteilung, sondern im Selbstverständnis des Aufsichtsrats.
Strategische Kennzahlen und Frühindikatoren: Messen, was wirklich zählt
Finanzkennzahlen bleiben ein unverzichtbarer Teil der Aufsichtsratsarbeit. Doch sie erzählen nur die halbe Geschichte. Wer ausschließlich in Bilanzen und EBIT denkt, bleibt im Rückspiegel der Unternehmensentwicklung verhaftet – während strategisch entscheidende Entwicklungen oft unbemerkt an Fahrt gewinnen.
Zukunftsgerichtete Aufsichtsräte ergänzen traditionelle Finanzmetriken gezielt durch Indikatoren, die auf die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens einzahlen. Sie schaffen ein erweitertes Controllingverständnis, das nicht nur die Gegenwart abbildet, sondern mögliche Zukünfte antizipiert. Wichtige Beispiele dafür sind:
- F&E-Quote als Signal für Innovationsfähigkeit
- Mitarbeiterbindung und Engagementwerte, die auf Kultur und Leadership hindeuten
- Fortschritt bei ESG-Zielen, insbesondere bei CO₂-Reduktion oder Diversitätsinitiativen
- Kundentreue und Markenvertrauen, als Frühindikatoren für langfristige Marktposition
Diese Kennzahlen sind keine netten Ergänzungen – sie sind essenziell, um die Effektivität von Boards im strategischen Monitoring zu steigern. Sie verschieben den Fokus: von der reinen Bewertung vergangener Quartale hin zu einem Frühwarnsystem für unternehmerische Resilienz und Differenzierungspotenzial.
Strategisch agierende Aufsichtsräte fragen sich: „Woran erkennen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind – nicht heute, sondern in drei Jahren?“ Die Antwort liegt oft nicht in der Bilanz, sondern im Blick auf das, was sich leise, aber wirkungsvoll verändert.
Szenarioanalysen: Zukunftsunsicherheit systematisch denken
Dass die Zukunft ungewiss ist, ist keine neue Erkenntnis. Neu ist jedoch, wie radikal sich die strategischen Rahmenbedingungen in kurzer Zeit verändern können: Lieferketten brechen, Technologien verschieben Geschäftsmodelle, politische Ordnungen geraten ins Wanken. Vor diesem Hintergrund ist es fahrlässig, Governance allein auf linearen Annahmen aufzubauen.
Und doch: Laut unserer Global Board Survey 2025 führen nur 35 % der befragten Aufsichtsräte strukturierte Szenarioanalysen mindestens einmal jährlich durch. Weitere 15 % verzichten gänzlich darauf. Das ist kein Nebenschauplatz – es ist eine Governance-Lücke.
Szenarioplanung ist kein Prognosetool. Sie ist ein Denkinstrument, das hilft, strategische Robustheit zu entwickeln – und das Management mit gezielten Fragen herauszufordern:
- Welche unserer Annahmen sind stabil – und welche könnten kippen?
- Was würde ein Regimewechsel in einem Schlüsselmarkt für unsere Supply Chain bedeuten?
- Wie reagiert unser Geschäftsmodell auf disruptive Technologien, bevor sie Mainstream werden?
Aus unserer Erfahrung erzielen leistungsstarke Aufsichtsräte dann die größte Wirkung, wenn sie Szenarioplanung nicht als einmaliges Event begreifen, sondern als festen Bestandteil ihrer Arbeit. Drei konkrete Ansätze:
- Szenario-Workshops im Jahreskalender – idealerweise gemeinsam mit externen Expert:innen für Geopolitik, Technologie oder Märkte.
- Einrichtung eines „Szenario-Verantwortlichen“ im Gremium, der Entwicklungen zwischen den Sitzungen beobachtet und in die Diskussion einbringt.
- Verknüpfung mit strategischen Entscheidungen: Welche Investitionen, Restrukturierungen oder Partnerschaften würden sich in verschiedenen Zukunftsbildern wie bewähren?
Wer den Blick auf die Zukunft institutionalisiert, entscheidet nicht reaktiver – sondern mutiger und vorausschauender.
Datenbasiert steuern: Vom Erkenntnisgewinn zur strategischen Umsetzung
Zukunftsfähigkeit erkennt man nicht an Worten – sondern an Zeitbudgets. Ob ein Aufsichtsrat zukunftsfähig aufgestellt ist, zeigt sich nicht in Strategiepapieren oder Vision-Statements. Es zeigt sich in der konkreten Gremienarbeit: Wie wird die Sitzungszeit genutzt? Welche Themen dominieren die Diskussion? Und wie konsequent stellt sich das Gremium gegen die träge Sogwirkung des Status quo?
Unsere Global Board Survey 2025, basierend auf Rückmeldungen von Aufsichtsratsvorsitzenden und nicht-exekutiven Mitgliedern multinationaler, börsennotierter Unternehmen, bringt es auf den Punkt:
Zwischen dem, was Gremien als notwendig erachten – und dem, worauf sie tatsächlich Zeit und Aufmerksamkeit verwenden – besteht eine durchgängige Diskrepanz.
Zu wenig Zeit für strategischen Dialog
Über Branchen und Regionen hinweg zeigt sich ein konsistentes Muster: Sitzungsagenden sind weiterhin stark geprägt von regulatorischen Reviews, Quartalszahlen und rückblickenden Berichten. Diese Punkte sind wichtig – aber sie verdrängen häufig die notwendige Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen.
Im Durchschnitt widmen Aufsichtsräte weniger als ein Drittel ihrer Zeit langfristigen Prioritäten – etwa Innovation, strategischer Neupositionierung oder der Früherkennung neuer Risiken. Dieses strukturelle Ungleichgewicht hat Folgen: Es verengt den Blick, verhindert vorausschauende Steuerung – und reduziert das Gremium auf die Rolle eines Kommentators, statt eines strategischen Taktgebers.
Was zukunftsorientierte Gremien anders machen
- Sie schaffen Transparenz über Zeitnutzung: Sie erfassen systematisch, wie viel Zeit tatsächlich in zukunftsgerichtete Themen fließt – und setzen sich ambitionierte Zielwerte, um dieses Verhältnis zu verschieben.
- Sie gestalten die Agenda bewusst: Vorsitzende achten darauf, dass in jeder Sitzung substanzielle strategische Inhalte behandelt werden – nicht nur operative Kontrollpunkte.
- Sie beobachten Trendlinien, nicht nur Schlagzeilen: Strategisch denkende Gremien warten nicht auf Krisen. Sie achten auf schwache Signale – etwa neue Wettbewerbsstrategien, regulatorische Nebengeräusche oder frühe Technologieprojekte.
Benchmarking als Impulsgeber
Viele Gremien agieren in strategischer Isolation – ohne zu wissen, wie ihr Zeitbudget oder ihre Themenpriorisierung im Vergleich zu anderen Unternehmen abschneidet. Dabei kann Benchmarking wertvolle Impulse liefern – als Realitätscheck und als Hebel für Veränderung.
Beispiel: Wenn Aufsichtsräte in Ihrer Branche im Schnitt 35 % der Sitzungszeit auf strategische Themen verwenden – Ihr Gremium jedoch nur 20 % –, ergibt sich daraus ein struktureller Wettbewerbsnachteil.
Leistungsorientierte Gremien nutzen solche Vergleiche, um:
- interne Annahmen zu hinterfragen: „Wenn andere diesen Themen mehr Gewicht geben – was übersehen wir?“
- Veränderung zu begründen: Benchmarks helfen Vorsitzenden, neue Formate oder Gremienentwicklungen überzeugend zu verankern.
Vorreiter zu identifizieren: Wer ist in unserer Branche besonders vorausschauend – und was können wir davon übernehmen?
Vom Erkennen zum Handeln
Erkenntnis allein reicht nicht. Führende Gremien übersetzen Einsichten in konkrete Maßnahmen. Sie machen interne Erfolge sichtbar – etwa Bereiche, die bereits Raum für strategischen Dialog geschaffen und spürbare Wirkungen erzielt haben. Sie übertragen funktionierende Modelle auf andere Gremienbereiche. Und sie schaffen Verbindlichkeit – durch klare Verantwortlichkeiten, regelmäßige Reviews und einen Kulturwandel hin zu echter Zukunftsorientierung.
Wer nicht nach vorn schaut, fällt zurück
Die meisten Aufsichtsräte haben heute das richtige Gespür für die Herausforderungen ihrer Rolle – doch vielen fehlt der organisatorische und kulturelle Rahmen, um diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Zwischen strategischem Anspruch und tatsächlichem Verhalten liegt eine gefährliche Lücke. Wer sie nicht aktiv schließt, verliert an Relevanz.
Zukunftsorientierte Aufsichtsräte zeichnen sich durch ein neues Selbstverständnis aus: Sie sehen sich nicht nur als Kontrollorgan, sondern als strategischer Mitgestalter. Sie hinterfragen kurzfristige Denkmuster, fördern Dialog auf Augenhöhe und verankern Zukunftsfähigkeit strukturell – über Agenda-Gestaltung, Kompetenzarchitektur, Nachfolgeplanung und eine offene Gremienkultur.
Unsere Erfahrung zeigt: Die Effektivität von Boards wird künftig nicht daran gemessen, wie gut sie Risiken vermeiden – sondern wie konsequent sie strategische Chancen ermöglichen. In einer Welt wachsender Komplexität wird der Aufsichtsrat vom Governance-Instrument zum Wettbewerbsvorteil.
Quick-Wins für zukunftsorientierte Aufsichtsräte
- Agenda prüfen: Wie viel Zeit widmen wir tatsächlich der Zukunft? Definieren Sie ein strategisches Zeitbudget – und erhöhen Sie es schrittweise.
- Kompetenzmatrix schärfen: Deckt unser Gremium alle relevanten Zukunftsthemen ab – von Digitalisierung über ESG bis hin zu globaler Resilienz?
- Szenarioarbeit institutionalisieren: Mindestens ein strukturierter Workshop pro Jahr – mit klarem Bezug zu strategischen Entscheidungen.
- Vergütungssysteme überdenken: Wird langfristiger Erfolg auch tatsächlich belohnt? Justieren Sie KPIs und Incentives entsprechend.
- Nachfolge als Daueraufgabe etablieren: Entwickeln Sie ein strategisches Nachfolgemodell, das mit der Unternehmenszukunft mitwächst – nicht erst im Ernstfall.
Autoren
All Daten und Zahlen: RefineValue Global Board Survey 2025